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ALICE AHLERS

Journalistin und Autorin

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Das Leben ist schön

Was macht die Psyche stark? Der französische Forscher Boris Cyrulnik untersucht, warum manche Menschen trotz schlimmer Erlebnissen glücklich werden. Das hat auch viel mit

seiner eigenen Geschichte zu tun. Als Kind überlebte er den Holocaust.

Von Alice Ahlers

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Als Boris Cyrulnik verhaftet wird, ist er sechs Jahre alt. Mitten in der Nacht umringen die Nazis sein Bett, blenden ihn mit Taschenlampen, richten Revolver auf ihn. Einer sagt: „Diese Kinder müssen verschwinden, sonst werden sie zu Feinden Hitlers.“ Der Junge staunt. Zum ersten Mal hört er, dass er ein Jude ist, ohne zu wissen, was das bedeutet.  Da er nicht wie ein Erwachsener denkt, reagiert er vor allem neugierig. Er wundert sich über die hochgestellten Kragen und die Filzhüte der Nazis, die mitten in der Nacht kommen, um ein Kind zu holen. Ihre dunklen Brillen erscheinen ihm albern. „Ich entschied, dass das Leben aufregend ist, und dass man die Erwachsenen nicht ernst nehmen kann“, erinnert sich Boris Cyrulnik.

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Das Kind von einst ist heute 76 Jahre alt. Boris Cyrulnik sitzt in einem kleinen Raum mit großen Fenstern in der Berliner Friedrichstraße. Er erzählt von seinen zwei kleinen Enkeln, wie „wunderschön" sie seien und um seine Augen funkelt es. Der Franzose hat eine Halbglatze, das wenige Haar an den Schläfen ist zwar grau, doch das Gesicht erscheint fast faltenlos. Als Psychiater an der Universität Toulon erforscht Cyrulnik etwas, das viel mit seiner Lebensgeschichte zu tun hat. Als Kind verlor er seine Eltern durch den Holocaust. Sie starben im Konzentrationslager Auschwitz. Und trotz allem: Er wurde, wie er heute sagt, ein glücklicher Mann. Etwas, das nicht jedem gelingt, der Ähnliches durchlebt hat.

 

Was macht Menschen nach solchen extremen Lebenssituationen stark? Wie entgehen sie einem Trauma? Wissenschaftler nennen diese Fähigkeit Resilienz. Ein Gebiet, auf dem Boris Cyrulnik als Forscher ein Star ist.  Die Fragen, die er als Wissenschaftler stellt, hat er jedoch lange nicht konkret an sich selbst gerichtet. Wie hat er persönlich es geschafft, trotz seiner schrecklichen Erlebnisse ein zufriedenes Leben zu führen? Darüber hat er nun ein Buch geschrieben. Der Titel: „Rette dich, das Leben ruft!“ 

 

Bordeaux, Frankreich, 1942.  Boris Cyrulnik ist erst sechs Jahre alt, als ihn seine Mutter bei einer befreundeten Familie versteckt. Er wird sie nie wiedersehen, denn kurz darauf werden sie wie auch schon ihr Mann von der Gestapo abgeholt. Wochenlang muss der kleine Boris in dem Haus der fremden Familie bleiben. Er darf nicht auf die Straße gehen. Warum, versteht er nicht, denn keiner erklärt es ihm.  Am Tag ist er allein, eingeschlossen und lethargisch. Er kann weder lesen noch schreiben, es gibt kein Radio, keine Freunde, niemanden, der mit ihm spricht. Ununterbrochen läuft er im Kreis um einen Tisch herum, bis ihm schwindelig wird.

 

Als die Gestapo ihn schließlich nachts in diesem Haus aufspürt und aus dem Bett holt, empfindet er das ganz anders als man zunächst denken könnte. Er erlebt es als Befreiung. „Ich habe nicht unter meiner Festnahme gelitten, weil ich sie als einen Festtag erlebte, an dem nach langen Monaten der Isolation das Leben zu mir zurückkehrte.“

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Cyrulnik zieht daraus eine wichtige Erkenntnis: Wie man sich die eigene Lebensgeschichte erzählt, ist entscheidend dafür, ob Erlebnisse traumatisieren oder nicht. Auf die eigene Perspektive kommt es an. Sein Buch hat er nicht nur geschrieben, um die abenteuerliche Geschichte eines jüdischen Jungen zu erzählen, der dem Tod durch die Nazis entkam. Er will vor allem am eigenen Beispiel zeigen, wie das menschliche Gehirn Erlebnisse speichert, wie es sie umbaut, deutet und ergänzt, um dem Geschehen Sinn zu verleihen.

 

Dafür kehrte er nach mehr als  50 Jahren an den Schauplatz seiner Flucht zurück, um sich zu erinnern. Dorthin, wo ihn die Gestapo nach seiner Festnahme gebracht hatte: in die Synagoge von Bordeaux. Hunderte Juden wurden 1944 dort zusammengepfercht, der sechsjährige Boris ist einer von ihnen. Als Unruhe unter den Menschen ausbricht, weil die Soldaten beginnen, die Gefangenen abzutransportieren, sieht er draußen einen offenen Krankenwagen, darin eine blonde Krankenschwester, die ihn hastig heranwinkt. Er huscht hinein. Im Laderaum liegt auf einer Matratze eine sterbende Frau. Die Krankenschwester hebt die Matratze an, er kriecht darunter und rührt sich nicht. Er sieht einen Offizier in den Wagen klettern und die Frau untersuchen. Er glaubt, dass der Deutsche auch ihn bemerkt hat, aber trotzdem das Zeichen zur Abfahrt gibt. 

 

„Wenn ich mich als Kind an diese Szene erinnerte, habe ich mir gesagt, dass er mich gesehen hat“, sagt Boris Cyrulnik. „Vielleicht brauchte ich diese Erinnerung, um mich davon zu überzeugen, dass das Böse nicht unerbittlich ist.“

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Die Krankenschwester organisiert Boris’ Flucht, versteckt ihn zunächst im Kochtopf einer Großküche.

In einem Kartoffelsack fährt ihn jemand aufs Land, wo er den Krieg auf einem Bauernhof überlebt. In jener Zeit legt sich Boris seine Erinnerungen so zurecht, dass er sie angstfrei nacherleben

kann. Ein unbewusstes Arrangement mit seinem Gedächtnis, das den Schrecken als abspeichert. Mit ihm selbst als Helden. „Ich hatte meine Verfolger an der Nase herumgeführt, ich war gerissener als die deutsche Armee und die Gestapo zusammen. Fast empfand ich ein Gefühl der Stärke“, erinnert sich Boris Cyrulnik. Schlechte Erfahrungen beschönigt er oder lässt sie einfach weg. „So wurde ich kein Gefangener der Vergangenheit und entging einer Traumatisierung.“

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Viele Menschen, sagt Cyrulnik, seien überrascht, wenn er von seinen Erinnerungen erzähle, weil

Angst darin kaum vorkomme. „Kinder werden oft unterschätzt“, sagt der Psychiater. „Wachsen sie die ersten Jahre in Geborgenheit auf, können sie alles, was sie erleben, als eine Art Spiel auffassen.“ Das habe auch seine Seele gerettet.

 

Als Wissenschaftler hat Cyrulnik viele Menschen getroffen, denen das nicht vergönnt war. In ihrer Kindheit sahen sie Krieg, Tod und Verfolgung. Als Erwachsene durchleben sie diese Erinnerungen immer wieder. Die Bilder kehren in Albträumen zurück oder werden von harmlosen Alltagserlebnissen aktiviert. Ein Grashalm zwischen Pflastersteinen, ein Blick oder eine Geste können die Erinnerung wachwerden lassen. Die Vergangenheit wird zur ständigen Gegenwart. Cyrulnik sah misshandelte Kinder, die jedes wütende Gesicht in Panik versetzt. Kinder, die aggressiv und kriminell wurden. Doch er traf auch Menschen, die trotz verstörender Erlebnisse einem Trauma entgangen waren. Darunter solche, die als Kind die Bombennächte in London erlebt hatten.

 

Viele dieser damaligen Kinder erinnern sich ohne Schrecken an die Zeit im Bunker, wenn ihre Eltern sich liebevoll um sie gekümmert, sie beschützt und ihnen Sicherheit gegeben hatten. Sie wurden in Decken gehüllt, bekamen Süßigkeiten und ein aufmunterndes Lächeln. Die äußere Aggression verstärkte die Bindung zu den Eltern sogar. Kinder, die man dagegen in Heime aufs vor den Bomben sichere Land schickte, waren von ihren vertrauten Bezugspersonen getrennt und litten unter Angst und Albträumen.

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Der Wissenschaftler stellte außerdem fest, dass Kinder, die vor einem verstörenden Erlebnis bereits gut

sprechen gelernt haben, eher vor seelischen Verletzungen gefeit sind. „Wenn sie in der Lage sind, sich von dem, was ihnen zugestoßen ist, eine sprachliche Vorstellung zu machen, und jemandem davon berichten können, erleichtert das die emotionale Bewältigung“, sagt er. Ähnliches beobachtete er bei Soldaten, die sich sprachlich gut ausdrücken konnten. Sie litten seltener unter posttraumatischen Belastungsstörungen.

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Boris Cyrulnik selbst kann nach dem Krieg lange nicht über seine Erlebnisse sprechen, denn keiner will sie hören. An wen er sich auch wendet, die Menschen weichen ihm aus oder sind zu betroffen. Auch seine Erinnerungen drohen zu diesem Zeitpunkt zum Trauma zu werden. Er hat jedoch einen Traum. Er will Medizin studieren und Psychiater werden.„Hätte ich mich damals im seelischen Gleichgewicht befunden, hätte ich nicht studiert“, sagt Cyrulnik. Er ist alleine, ohne Geld, ohne Familie, muss neben dem Studium arbeiten, um über die Runden zu kommen. Doch er hat keine Angst. „Ich hatte ja den Tod besiegt.“ Dieses Gefühl habe ihn mutig, ja geradezu größenwahnsinnig gemacht.

 

Seine Kindheitserlebnisse jedoch verschließt er lange in einer „inneren Krypta“, wie er es nennt. Er

schweigt, weil alle schweigen. Erst als sich das gesellschaftliche Klima ändert, NS-Verbrecher vor Gericht

gestellt werden und die Menschen beginnen, sich für seine Vergangenheit zu interessieren, findet er Worte für das Erlebte. Er spürt seiner Geschichte nach, puzzelt seine Erinnerungen zusammen. Und schreibt sein Buch.

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Helle Sonnenstrahlen fallen auf einmal durch die Fenster in der Friedrichstraße und blenden Cyrulnik. Sein Übersetzer will die Jalousien herunterlassen, doch Cyrulnik hält ihn auf. Lieber setzt er sich auf einen anderen Stuhl, als das Licht auszusperren. Die hellen Flecken sind es auch, die er in jedem Leben sucht. Dass es sie dort gibt, egal, welche Grausamkeiten jemand erdulden musste, daran zweifele er nicht. „Ich bin das beste Beispiel dafür", sagt er. 

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Berliner Zeitung, Magazin 

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