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 Kann deiner das schon?"

Eltern unter Förderdruck. Musik, Chemie und Physik für die ganz Kleinen – große Chance oder Kindheit unter Leistungsdruck? 

Von Alice Ahlers

Oskar ist eine Viertelnote. Davon weiß er nur noch nichts. Mit drei Jahren kann man sich unter Noten noch nicht so viel vorstellen. Da ist eine Viertelnote eben einfach etwas Langsames - eine Schnecke zum Beispiel. Um ein Gefühl für dieses Tempo zu bekommen, hält sich der kleine Junge im königsblauen Fußballtrikot zwei Trommel-klöppel an die Stirn – wie zwei Fühler. Dina Schulz-Kleinstoll springt ans Klavier, spielt langsam und schnell, langsam und schnell. Oscar läuft mit den Holz-Fühlern im Kreis, langsam und schnell, Viertelnoten, Achtelnoten, langsam und schnell.

 

Seit ein paar Monaten trommelt Oskar auf allem herum. „Eimer, Töpfe, Gläser“, erzählt Judith Gogulski, Oskars Kindermädchen. Nichts sei mehr sicher vor seinem neu entdeckten Rhythmusgefühl. Sie hat ihn gerade im Düsseldorfer „Kindermusikatelier“ abgegeben. Keine gewöhnliche Musikschule, sondern eine „Schlau-Schulung“, so heißt es im Programm. Zwei Stunden Rundum-Förderung für Zwei- und Dreijährige. Singen und erzählen, malen und matschen, basteln und bewegen.

 

Dina Schulz-Kleinstoll läuft mit wehenden Haaren durch den Raum, sieben Kinder hinterher, sie singt und erzählt, krabbelt und schleicht über den Teppich, pustet in die Flöte. Die Schnecke – das Thema des Tages – wird gespielt, gemalt, gebastelt und besungen. Beim gemeinsamen Frühstück wird außerdem das Teilen trainiert, eine halbe Möhre für den Sitznachbar, ein Stückchen Reiscracker wandert über den Tisch, jeder hilft beim Aufräumen und auch dabei wird gesungen: „Wische-Wasche, Wische Wasche“.

 

Seit dreißig Jahren macht Dina Schulz-Kleinstoll musikalische Früherziehung. Doch in der letzten Zeit sind ihre kleinen Kunden immer jünger geworden. Viele Eltern kommen mit demselben Auftrag: „Ich bin nicht musikalisch. Ich kann nicht singen. Das müssen Sie jetzt machen.“ Also hat sie reagiert und ein eigenes Programm für Kinder unter drei Jahren entwickelt.

 

„Ich kann auch nicht jeden Nachmittag ein pädagogisches Feuerwerk abfackeln“, sagt eine Mutter, die ihre Tochter gerade vom Musikatelier abholt. Sie und ihr Mann spielten kein Instrument, aber die Oma sei Sängerin gewesen. Wenn das in den Genen schlummert, müsse man es doch hervorlocken, oder?

 

So denken viele Eltern. Sie stehen unter Förderungsdruck, denn  der Markt für Früherziehung wächst. Für Geld ist fast alles zu haben. Mit 18 Monaten zu den „Musik-Minis“, Englisch vor der Grundschule, Computerkurse für Vierjährige, Workshops zu Chemie bis Politik, die„Einstein Junior“, „MegaKids“ oder „Wir gründen einen Inselstaat“ heißen. Nie gaben Hirnforscher Eltern so tiefe Einblicke in die Gehirne ihrer Kinder. Sie lesen von „Zeitfenstern“, die sie nicht verpassen sollen, hören überall, was ihr Kind in welchem Alter schon alles können sollte. „Kann deiner das schon?“, „Oh, eurer krabbelt noch immer nicht“? Das verunsichert. Denn alle Eltern haben eins gemeinsam: Sie wollen nur das Beste für ihre Kinder, ihnen Chancen ermöglichen, nichts falsch machen. 

„Durch PISA ist ein enormer Druck entstanden“, sagt Gerd E. Schäfer, Professor für Frühpädagogik an der Universität zu Köln. Um die Defizite der Schule auszugleichen, hätten viele den Schluss gezogen, Bildung müsse früher beginnen. Das setze viele Eltern unter Druck. „Sie bekommen ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihr Kind nicht zum Vorschulenglisch oder zu den Computerkids schicken.“ Eltern, die häufig beide berufstätig sind, die den schwierigen Arbeitsmarkt aus eigener Erfahrung kennen, die die Kinder der Krise rüsten wollen für die Herausforderungen der Zukunft, sie pisastark und globalsierungsfit machen wollen.

 

„Ich will, dass meine Kinder später im Berufsleben zurechtkommen“, sagt Sabine Bimmler. „Das ist eine enorme Verantwortung“. Ihre zwei Söhne gehen in den zweisprachigen Kindergarten „Cologne Bumblebees“. Der dreijährige Jan sitzt an einem Tisch voller Memory-Karten: Enten, Schafe, Mäuse, Katzen. „What is your favorite picture?“, fragt die Erzieherin. Jan legt den Kopf schräg, die Augen fliegen blitzschnell hin und her. Er hat genau verstanden. Kein Hä? Kein fragender Blick. Dass Sara mit ihm Englisch spricht, ist für ihn ganz normal. „The mouse”, sagt er mit perfektem th und nickt. Sara Pritchard, Britin, spricht mit Jan ausschließlich Englisch. Andrea Derksen, die zweite Erzieherin nur Deutsch. Eine Person – eine Sprache. Das ist das Konzept des bilingualen Kindergartens. 

 

„Die Kinder lernen die Sprache nicht wie später in der Schule über grammatische Strukturen und Vokabelpauken, sondern über konkrete Lebenssituationen“, sagt Andrea Derksen. Sie ordnen die Sprachen bestimmten Bezugspersonen zu, deren sprachliches Verhalten sie nachahmen. Jan hat beim Memory eine Glücksträhne, räumt alle übriggebliebenen Kartenpaare ab. Zwei ducks, zwei cats, zwei sheep – „You’re the winner“. Sara Pritchard tätschelt ihm den Kopf. „Well done.“ So geht loben auf Englisch. 

Was Jans Eltern mühevoll in der Schule lernen mussten, lernt ihr Sohn spielerisch nebenbei. Beide sind international tätig, Englisch gehört zu ihrem Alltag. Auf dem Arm der Mutter schmatzt ein rosa Bündel. Das Baby ist gerade ein paar Wochen alt und auch schon im zweisprachigen Kindergarten angemeldet. „Natürlich habe ich manchmal auch Sorge, meine Kinder zu überfordern“, sagt die Frau mit den strahlend blauen Augen. „Ich schaue sehr aufmerksam auf meine Kinder", sagt sie. „Eine gesunde Intuition ist durch nichts zu ersetzen“. Wenn sie Jan um 16 Uhr vom Kindergarten abholt, will sie nicht noch kreuz und quer durch die Gegend fahren. Montags Fußball, Mittwoch Basteln, Freitag Musik. „Den Freizeitstress mach ich nicht mit“, sagt sie. Damit schaukelten sich Eltern auch gegenseitig hoch. Die Musikpädagogin kommt einmal die Woche in den Kindergarten, demnächst soll außerdem jemand von der Kölner Sporthochschule engagiert werden, um dort mit den Kindern zu turnen. Auch eine Idee der Eltern. 

Träumen und trödeln lassen oder fordern und fördern? Fühlt sich mein Kind wohl und aufgehoben oder getriezt und gedrillt? Die Angst der Eltern ihre Kinder zu überfordern schüren auch selbst ernannte Experten wie der englische Autor Tom Hodgkinson in seinem Erziehungsratgeber: „Lasst eure Kinder in Ruhe!“. Teure Freizeitaktivitäten brächten viel zu früh zu viel Stress und Leistungsorientierung, schreibt er. Eltern ständen ständig unter Druck, liefen mit dem quälenden Gefühl durch die Welt, sich immer mehr anstrengen zu müssen. Eine glückliche Kindheit, sieht laut Hodgkinson dagegen so aus: eine große Wiese statt Kleinkinderprogramm, ein Vogelhäuschen vor dem Fenster, ein Baumhaus ohne Internetanschluss. Zeit für simples Herumalbern und freies Spiel. Die „hyperstimulierten Kinder“ von heute – wie er sie nennt – würden verlernen, sich selbst zu beschäftigen. „Sie vergessen, wie spielen geht.“

Jan scheint damit keine Probleme zu haben. Nach seinem Sieg beim Memory schlendert er an den Regalen entlang, zieht ein Spiel raus, schiebt es wieder rein, lugt in eine Kiste, entscheidet sich schließlich für ein Puzzle. Alleine setzt er sich an einen Tisch, schiebt konzentriert die Holzteile hin und her. Nach einer Stunde sitzt er immer noch da. Beim freien Spielen entscheiden die Kinder selbst, was sie machen wollen. Die freie Wahl gilt auch für die Sprache. Kein Kind soll gezwungen werden, eine bestimmte Sprache zu benutzen. Untereinander sprechen die Kinder Deutsch, auch wenn die Erzieherin sie auf Englisch anspricht, können sie auf Deutsch antworten. Sie sollen sich wohl fühlen.

Wissenschaftlich begleitet wird der zweisprachige Kindergarten von der Universität Köln. Regelmäßig führen Sprachwissenschaftler Tests mit den „Bumblebees“ 

durch. „Die Zwischenergebnisse sind sehr gut“, sagt Andreas Rohde, Professor am Englischen Seminar. So zeigten einige Kinder ähnliche Ergebnisse wie Gleichaltrige, die in Großbritannien Englisch als Zweitsprache lernen, also in einer englischsprachigen Umgebung aufwachsen. „Man kann in diesem Alter wunderbar eine zweite Sprache einfließen lassen, ohne dass man die Kinder in irgendeiner Weise belastet“, sagt er. Entscheidend sei allerdings die Methode. Viele Kindergärten versuchten auf Grund des Drucks, Englisch anzubieten – stundenweise wie in der Schule. „So einen formalen Unterricht halte ich für sinnlos.“ Ob es tatsächlich den „Altersfaktor“ beim Sprachenlernen gebe, ein besonderes Zeitfenster im frühen Kindesalter, sei unter Forschern durchaus umstritten. „Sprachen kann man auch noch im hohen Alter lernen“, sagt er. Man lerne sie dann nur anders.

Auch andere Wissenschaftler distanzieren sich von der simplen Formel: Je mehr Stimulation, desto mehr „Brainpower“, je früher, desto besser. Der Neurobiologe Gerald Hüther betont das Verhältnis von Bindung und Bildung. Jedes Kind verfüge über einzigartige Potentiale, aber ob die Entfaltung dieser Anlagen gelingt, hänge auch von dem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit ab. Gerade bei Kindern sei Lernen immer mit Emotionen verbunden. „Lernen und Bildung hat nicht nur damit zu tun, dass irgendwelche Wissensportionen von einem zum anderen übertragen werden“, sagt auch Gerd. E. Schäfer, der Kölner Professor für Frühpädagogik. „Es geht nicht nur darum, stundenweise ein Instrument zu lernen, sondern darum, Beziehung zu einer Person aufzubauen, die gerne Musik macht, mit der ich mich identfizieren kann.“ 

Begeistert werden sollen kleine Kinder vor allem auch für Naturwissenschaften. Angebote zu Chemie und Physik schießen überall aus dem Boden. Erst kürzlich hat Bildungsministerin Annette Schavan den bundesweiten „Tag der kleinen Forscher“ ausgerufen. Ingenieure brauche das Land. Im Mitmachlabor in Köln-Sülz zieht der fünfjährige Aron West sich gerade den weißen Kittel an. An einem Haken hängen kleine gelbe Schutzbrillen. Eine Handpuppe reicht ihm die filzige Hand zur Begrüßung. Albert, der Maulwurf, sitzt auf dem Arm von Katharina Palm. Eigentlich war sie mal Schauspielerin. Jetzt macht sie mit Kindern Chemie und Physik. Wie Angela Merkel sieht sie gar nicht aus, eher wie Sandra Bullock. Unter dem Kittel trägt sie einen Jeansrock, über den Schultern hüpfen zwei Zöpfe. „E-l-e-m-e-n-t-a-r-magnete“, buchstabiert sie langsam, nachdem sie mit den acht Kindern Büroklammern geangelt hat. Was zieht sich an? Was stößt sich ab? Beim Autorennen sollen die Kinder spielerisch mit Magnetismus umgehen.

 

Die Kinderlabore gibt es mittlerweile in vielen deutschen Städten. Auch die „Science Labs“ für Kinder von vier bis zehn haben mittlerweile über 70 Standorte. Gisela Lück, Professorin für die Didaktik der Chemie an der Universität Bielefeld, hält von solchen Kursen nicht so viel. Der Grund: Sie kosten Geld. „Das erreicht nur die priviligierten Kinder, deren Eltern sowieso schon engagiert sind.“ Das ist die andere Seite der Frühförderungs-Medaille. Während die einen Familien ihre Kinder fördern, tun andere zu wenig. Gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten sind damit benachteiligt. 

Auch Sabine Bimmler hat die Befüchtung, ihr Sohn Jan könnte sich langweilen, wenn er in die Schule kommt und dann den Spaß am Lernen verlieren. Die meisten seiner zukünftigen Klassenkameraden werden erst dann mit dem Englisch beginnen. Ihr Vertrauen in deutsche Schulen ist nicht sehr groß. Deswegen will sie gemeinsam mit der Elterninitiative der „Cologne Bumblebees“ eine eigene Schule gründen. Eine Schule, die die Kinder da abholt, wo sie die frühe Förderung schon hingebracht hat. „Ich habe einfach Angst, dass das, was ich meinen Kindern ermögliche, in unserem staatlichen Schulsystem wieder verloren geht.“ Es soll eine halbstaatliche Schule werden. Darüber verhandeln die Eltern mit der Stadt. 

„Frühförderung muss bei allen Kindern ankommen“, sagt Gisela Lück. Deswegen fährt sie seit 15 Jahren durch Kindergärten, um Erzieherinnen für ihre Experimente zu begeistern. Dafür braucht man nicht viel und nichts Teures: Wasser, Luft, Öl, Essig, Zucker. In ihren Studien fand sie heraus: Nach einem halben Jahr erinnerten sich noch 50 Prozent der Kinder an die Experimente. 30 Prozent sogar an jedes Detail. Das galt auch für Kinder aus sozialen Brennpunkten. Und: Für Jungen und Mädchen gleichermaßen. 

Kölner Stadt-Anzeiger, Magazin

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